Sinthujan Varatharajah: ein unendlicher raum

© Till Budde
Impulsvortrag "ein unendlicher raum" im Bildungsforum des Konvents der Baukultur am 3. Mai 2022 in Potsdam

Woran denken Sie, wenn Sie an einen Raum denken?

Denken Sie an einen geschlossenen Raum,
einen offenen Raum,
einen endlichen Raum
oder einen unendlichen Raum?

Wo fängt dieser Raum an?

Für Sie? Für jemanden Anderen?

Etwa an der Türschwelle, am Fenster, der Wand, den Rohren, der Fassade, dem Außenbereich oder noch weiter, der Stadtgrenze, der Region, dem Land, dem Kontinent oder dem Globus?

Fängt der Raum mit seiner Fertigstellung an, oder doch schon mit seiner Konzeption und der Idee, die schon einen Ort, einen Boden zu besetzen beginnt?

Fängt er mit seiner materiellen Existenz an? Oder schon in dem Moment, in dem die Materialien, die Materialität des Raumes begründen, noch Teil der Natur sind? Und wo hört er auf?

Für Sie? Für jemanden Anderen?

Hört er für jede Person am gleichen Punkt auf? Fängt er für jede Person am gleichen Punkt an?

Wird der Raum von seinen Grenzen bestimmt oder doch von seinen Öffnungen?

Wenn Sie an einen Raum denken, woran denken Sie?

Denken Sie an die Ordnung dieses Raumes?

Der Schnitt der Wände, das Material der Böden, die Höhen der Decken, die Position und Qualität der Fenster? Wie viel Licht er schluckt, welchen Schatten er wirft, wie viel Wärme er hält, welchen Duft er herstellt, welche Geräusche er fasst und selbst produziert?

Denken Sie an die Gegenstände im Raum? Die Anordnung dieser Objekte, die Materialien, die Farben, das Gesamtbild und der Gesamteindruck, der sich in Ihr Gedächtnis brennt?

An Ihrem Körper spiegelt? In Ihrem Körper ein Gefühl hervorruft?

Denken Sie, an das Gefühl im Raum? Die Verhältnisse im Raum? Wie groß oder klein er wirkt, und was das für Ihr Körpergefühl bedeutet? Wie klein oder groß Sie in diesem Raum sind? In diesem Raum wirken? Wie die Proportionen abhängig von den Referenzen sind? Der Körper sich im Körper spiegelt?

Wer Sie in diesem Raum sind? Und wer dieser Raum für Sie ist?

Wer in diesem Raum steht, sitzt oder liegt? Wer darin fehlt? Wessen Abwesenheit diesen Raum kennzeichnet? Wessen Anwesenheit diesen Raum dominiert?

Wer hinter diesem Raum steckt? Ihn wann, weshalb und für wen gestaltet und gebaut hat? Wie man* ihn erreicht, mit welchen Mitteln, mit welchem Mehraufwand? Wieviel Erhebungen, Stufen, Aufzüge, Gehsteige, Straßen, Autobahnen, Fahrradwege, U-Bahnen und Gleise er benötigt? Welche Naturen hinter ihm stecken, hinter ihm liegen, unter ihm vergraben wurden?

Welche Hände ihn berührt haben? Welche Namen er trägt? Und welche Namen er dabei verdeckt?

Wer davor steht und mit dem Körper den Blick in den Raum unterbricht? Die Sichtweite Ihnen nimmt? Den Blick auf etwas anderes, jemand anderen mit diesem Körper verdeckt?

Denken Sie daran, wie der Raum bei Tageslicht anders wirken kann als in der Nacht? Wie ein Raum Doppelleben führen kann? Vielleicht sogar mehr als nur zwei?

Gehen wir davon aus, dass kein Raum der gleiche ist. Dass Sie sich in jedem Raum anders empfinden, anders verhalten, anders sprechen, denken und erinnern. Gehen wir davon aus, dass jeder Raum ein anderer ist, und Sie in jedem Raum, jemand anderes sind. Dass jeder Raum andere Möglichkeiten und andere Grenzen aufweist, Ihnen einen Spielraum bietet, der sich immer in seinen Komponenten, egal wie klein sie sein mögen, unterscheidet, dessen Echo nie dasselbe ist; dessen Geschichten nie dieselben sind.

Dass ein Raum Teil einer Geschichte ist und jeder Raum seine eigenen Geschichten schreibt. Und jede dieser Geschichten anders ist, jede dieser Geschichten spezifisch ist.

Ein Raum besteht aus verschiedenen Komponenten, die den Raum zu dem Raum machen, als den wir ihn sehen, als den wir ihn empfinden. Und er verändert sich mit jeder Veränderung dieser Komponente.

Ein Raum kann sich bewegen, ohne den Ort zu verlassen; ohne bewegt zu werden.

Er kann sich mit dem Betreten einer Person verändern, mit dem Verlassen einer Anderen, aber auch mit der Verschiebung und Umgestaltung seines Innenlebens. Ein Raum kann sich mit den Veränderungen der Nutzungsverhältnisse, Nutzungsbedingungen sowie Nutzer*innen selbst verschieben. Er kann sich aber auch mit der Veränderung der Umgebung, die den Raum innerlich vielleicht vollständig unberührt lässt und dennoch das Verhältnis zum Außenraum beeinflusst, verschieben und damit verändern.

Ein Raum mag statisch wirken, über Jahrzehnte hinweg, den gleichen Punkt auf einer Karte besetzen und muss dennoch nicht unbedingt statisch sein; mit unveränderter Adresse immer der gleiche sein.

Die Art, wie ein Raum gestaltet und geordnet ist, wie er aufgebaut ist, worauf er steht und woraus er gebaut wurde, wie sich diese Ordnungs- und Gestaltungsverhältnisse mit den Jahren verschieben und verändern, reflektiert die gesellschaftlichen Verhältnisse eines Ortes und seiner Zeiten. Es kann als Zeitzeugnis dienen, das wie ein Manual für eine Realität funktioniert anhand derer wir Linien ziehen können, die einen Raum in all seinen Materialitäten, in all seinen Bausteinen und Baustoffen, mit verschiedenen Orten verbindet, die fern dieses Raums, fern dieser Vorstellung eines Raumes liegen mögen.

Ideen über und Ordnungsverhältnisse von Räumen entstammen menschlichen Vorstellungen über solche Räume und dem menschlichen Miteinander in diesen Räumen: wie Menschen sich vorgestellt haben, sich in einem Raum zu begegnen, sich in die Augen zu blicken, die gleichen Augen zu vermeiden, miteinander zu kommunizieren, zu schweigen und allgemein miteinander auf dieser Welt, in diesen Gesellschaften umzugehen. Sie reflektieren Wertvorstellungen, die einem oder mehreren Kulturverständnissen entstammen. Und natürlich, den damit verbundenen räumlichen Ideenvorstellungen.

Ein Raum ist nicht nur das Resultat davon, wer diesen Raum wann, wo und für wen entwirft, wie man* sich diesen Raum vorstellt, wie man* diesen Raum ordnet, um Möglichkeiten und Grenzen zu schaffen, wie man* in diesem Raum sein kann und sein darf, wer man* in diesem Raum sein darf, sondern auch von Politiken, die hinter diesen Vorstellungen stecken, sich in den Raum schleichen und darin unsichtbar verstecken und über Jahre sowie Jahrzehnte hinweg halten.

Dabei ist ein Raum keineswegs ein passiver Akteur.

Ein Raum ist nicht nur das Resultat politischer Entscheidungen, sondern schafft auch seine eigenen Politiken, seine eigenen Kulturen. Er trägt aktiv zu Entscheidungen bei: indem er das Potential hält und fasst, spezifische Formen des Miteinanders zu fördern und gleichzeitig zu unterbinden. Als plakatives Beispiel eines demokratischen Raumes, eines politischen Raumes, dient der Parlamentssaal.

Der Parlamentssaal ist ein Raum, in dem offensichtlich politische Entscheidungen vom höchsten Rang und nach demokratischen, zentralistischen, aber auch autoritären Maßstäben, Ansprüchen und Vorstellungen gefällt werden. Jedes Parlament auf dieser Welt beansprucht eine repräsentative Rolle, die sich auch in der Raumgestaltung spiegelt. Der Parlamentssaal selbst trägt dabei eine Identität, die von der Außenarchitektur bis zur Innenarchitektur, von der Fassade bis zum Dekor als spezifisch und einzigartig gelten und damit einen nationalen Charakter widerspiegeln soll, der weit über die Staatsgrenzen hinaus als kennzeichnend wirken soll und auf den Einheitsgedanken der Nation und der Territorien, die von dieser Nation beansprucht werden, hinweisen soll. Der Parlamentssaal reflektiert Identitäten, fungiert gleichzeitig aber auch als identitätsstiftend.

Gehen wir davon aus, dass die Welt plural ist; dass so viele Identitäten auf dieser Welt existieren, dass sie auf kein Blatt Papier dieser Welt passen. Gehen wir deshalb davon aus, dass Parlamentssäle in den verschiedensten Teilen dieses Planeten anders aussehen sollten. Doch ist dem tatsächlich so? Trotz der Pluralität der Welt, der unterschiedlichen Kulturen und Geschichten von Menschen, die die diese Erde bewohnen, ist dies nicht der Fall. Tatsächlich ähneln sich die meisten Parlamente dieser Welt in ihrer Architektur und anderen Gestaltungselementen.

Dies wird vor allem in den Sitzordnungen innerhalb der verschiedenen Parlamentssäle deutlich.

Wenn man* sich diese näher betrachtet, so betrachtet man* ein immer wiederkehrendes Muster der Sitztypologien. Diese können grob in fünf Varianten zusammengefasst werden:

Gegenüberliegende Bänke
Halbkreise
Hufeisen
Kreisformationen
Klassenzimmer-Formationen

Jede dieser Sitzformationen spiegelt eine ideologische und politische Geschichte wider, die sich in der Art wie man* sitzt, und wie man* sich als Resultat begegnet und betrachtet, miteinander umgeht, widerspiegelt.

Parlamentarische Räume sind als Bühnen konzipiert, die Kollaborationen, Konfrontationen aber auch Unterwerfungsdynamiken spiegeln, letztere zeigen sich zum Beispiel vor allem in autoritären Systemen, die sich oft an der Klassenzimmer-Sitzformation bedienen, die einem Frontalunterrichtkonzept und Ideologie entspringen. Parlamentarische Räume sind theatralische Räume, die teilweise die Ordnung antiker europäischer Theater nachahmen, aber auch ein theatralisches Miteinander bedingen. Sie schaffen Verhandlungsformen und Verhaltenschoreographien, die allesamt Ideologien unterliegen, die von Europa aus mitsamt des Kolonialismus auf die gesamte Welt übertragen wurden und forciert worden, um so zu globalen Normen des Miteinanders zu werden.

So stehen auch heute noch viele parlamentarische Gebäude in ihrer Platzierung, Architektur sowie Innengestaltung in direkter Verbindung zu den ehemaligen Kolonialmetropolen und den gesellschaftlichen Kulturen, Geschichten und Strukturen die fern der eigenen Geographien liegen und dennoch genau daraus entstanden sind – und noch immer in dieser Art, Beziehung und Gestaltung stehen: zurückgelassen wurden. Sie ahmen damit noch immer, ganz gleich der theoretischen Unabhängigkeit, europäische und damit auch automatisch rassistische Mythen der „Modernität“ und des „Fortschrittes“ nach. Wogegen einige der Gebäude und Sitzordnungen direkt aus der Kolonialzeit stammen, das heißt, von den Kolonialregimen selbst in Auftrag gegeben wurden und unter deren Anleitung im Abbild der heimischen Architektur und politischer sowie kultureller Raumordnungen nachgebaut wurden, so wurden andere dagegen im Sinnbild derer, in der Logik der europäischen Nationalstaaten, erst nach der politischen Unabhängigkeit, die niemals eine ökonomische Unabhängigkeit beinhaltete, entwickelt.

Doch steht nicht nur die Sitzordnung, sondern auch die Sitztechnik in dieser Beziehung und Geschichte zu Europa:

Das Sitzen auf Stühlen ist eine Idee, die in vielen Teilen der Welt erst mit der gewaltvollen Ankunft der Europäer*innen einkehrte und den Menschen buchstäblich vom Boden hob, ihn sitzend auf der Erde stehen ließ und somit eine andere Beziehung zu dem Boden, dem eigenen Körper und allen anderen Körpern, die diesen Boden bewohnten, entwickelte; Hierarchien und Machtgefälle etablierte, die anderswo auf diese Art nicht existierten und wenn, dann anders zum Ausdruck kamen. Es sind sture Formen des Miteinanders, der Höhen, Tiefen, Nähen und Distanzen, Berührungen und Vermeidungen, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, die daraus entstanden und sich zu universellen Verhaltenskodexen entwickelten, sich mit der Zeit wenig veränderten; die als Tradition gebrandmarkt wurden und somit unabhängig der Veränderungen der Zeiten vielerorts beibehalten werden. Gleichzeitig veränderte sich die Welt außerhalb dieser Gebäude maßgeblich. Sie blieb weder an den Orten noch in den Zeiten stehen.

Politik wurde schon damals nicht nur innerhalb dieser orthodoxen Räumlichkeiten gestaltet. Heute ist das natürlich noch weniger der Fall als damals. Politische Entscheidungen werden heute nicht nur innerhalb von geschlossenen Räumen getroffen, sondern vor allem unter dem freien Himmel: auf den Straßen, den öffentlichen Plätzen, den Gärten, Parks, Brücken, Gehsteigen, Bahngleisen, Autobahnen – Orten, die wie Flüsse die Landschaften und Städte durchströmen, die Natur im Namen des Menschen durchbohren. Orte, die menschliche Zirkulationen zulassen und damit auch Austausch fördern. Diese Orte werden häufig als Räume verstanden, die weder als politische noch demokratische gedacht werden. Doch sind sie das nicht. Das wird vor allem bei Besetzungen und Revolutionen deutlich, die sich im Auge der Öffentlichkeit wie ein Spektakel aus nächster Nähe in Räumen abspielen, an Orten, die schnell als mondän und uninteressant abgetan werden; Räume, deren politisches Potential oftmals nicht als solches verstanden wird.

Obgleich diese Art der Proteste häufig als chaotisch, willkürlich und wild von außen beschrieben werden, ihnen jegliche Form von Organisation, Intention und Historie abgesprochen wird, so unterliegen auch diese häufig Ordnungs- und Gestaltungslogiken, die von den materiellen Realitäten bestimmt werden; die von der gebauten Realität eingeschränkt, manchmal aber auch gefördert werden. Sie unterliegen politischen Ansprüchen, Ideen und Visionen, die sich innerhalb dieser Räume einen Raum zu schaffen versuchen und dazu führen, Realitäten, die von anderen vorgegeben, konzipiert und gebaut wurden, in dem Moment des Protestes aktiv umzudeuten und umzugestalten. Dies fängt mit der Ortsauswahl an und reicht bis zur Verhandlung des Raumes und ihrer selbst in diesen Räumen, die weniger von Mauern umschlossen werden als von Gebäuden, Straßen, polizeilichen Absperrungen und/oder rechtlichen Auflagen.

Anders als Parlamente, die in Regierungsvierteln liegen, die oftmals fern des Alltags sitzen, von Zäunen, Mauern und Sicherheitspersonal vor dem vermeintlich eigenen Volk gesichert werden, spiegeln sie Versuche wider, die Politik dorthin zu holen, wo sie die Menschen berührt und mobilisiert. Hierfür schleichen sie sich in Räume des Alltags ein, die sichtbar sind, sich im Mittelpunkt von Städten befinden, um genau jenen Zyklus des Alltags zu durchbrechen, um das kapitalistische und koloniale Zeitverhältnisse 9-17 zu stören, die Zirkulation des Verkehrs zu durchbrechen und damit den Status quo zu unterbrechen; um die vielen Räume, die für andere Zwecke, in anderen Zeiten von anderen Menschen und wahrscheinlich für andere Menschen gestaltet wurden, einzunehmen, um sie sich einzuverleiben, sie neu zu interpretieren, in die Gegenwart zu versetzen, die außerhalb von Mauern und Dächern lebt, um ihnen neue Möglichkeiten vorzuführen, die sie, in ihrem menschlichen Körper, der nicht nur Raum einnimmt, sondern auch Raum schafft und ist, wohlmöglich überleben wird, ein Nachleben führen wird das vielleicht, zeitversetzt, zu einem Nachbeben führen wird, das alte Räume zerrütten mag, um neue Räume aus neuen Materialien zu schaffen.

Um jenen Status Quo mit einer Realität zu konfrontieren, die in geschlossenen Räumen, Räumen die von Wänden, Fenstern, Böden und Decken umgrenzt werden, schnell versteckt wird und damit zu verschwinden droht und somit auch das revolutionäre Potential, das auf der Straße anders lebt, als im geschlossenen Raum, festgesetzt wird und damit kläglich zu ersticken droht.

Ist der Protest das Resultat des Raumes
oder der Raum das Resultat des Protests?

Bestimmt der Ort uns oder wir den Ort?

Woran denken Sie, wenn Sie an einen Raum denken?

An einen endlichen Raum oder doch einen unendlichen Raum?

 

Sinthujan Varatharajah, Impulsvortrag "ein unendlicher Raum" zum Bildungsforum des Konvents der Baukultur in Potsdam, Mai 2022

Nach oben