| Baukultur ist …

05 / Hilde Léon: Baukultur ist...

...die Summe aus Architektur und der Reflexion über Architektur

Mit dem Begriff Baukultur werden ein Anspruch und ein Streben nach Qualität formuliert. Auch wenn wir nicht darüber reden und schreiben würden, wäre Baukultur ein Spiegel der Themen ihrer Zeit und gäbe Auskunft über das architektonische Schaffen, wie widersprüchlich es auch immer sein mag und sein muss.

So wie wir uns heute mit der Baukultur anderer Epochen auseinandersetzen, wie uns die Baukultur vergangener Zeit beeinflusst, so wird in Zukunft unsere Zeit mit unserem Schaffen angeschaut und reflektiert werden. Baukultur zeigt sich in der Parallelität von Widersprüchlichem, Vielschichtigem, Normgebendem und Ausbrechendem. Dabei stellt Baukultur keinen unverrückbaren Maßstab dar, kann keine festen Gesetze formulieren – auch wenn einige Architekten und Theoretiker es gerne so einfach hätten, mit dem anscheinenden  Wissen, was richtig ist. Im Laufe der Zeit verändert sich die Rezeption von Architektur. Differenzierte Bewertungen werden vorgenommen, andere Schwerpunkte der Betrachtungen stehen im Vordergrund, und zum Teil wird neue Anerkennung formuliert. Schon aus eigener Erfahrung wissen wir, wie Architektur vergangener Jahrzehnte neu gelesen wird, insofern hat unsere Rezeption von Baukultur mehr mit der eigenen Zeit zu tun, als mit der Epoche, die wir betrachten. Jede Generation erobert sich die Baukultur neu und kommt zu neuen Schlüssen für das eigene Tun. Vielleicht braucht man sogar den Abstand von Jahrzehnten, um zu sehen, welche Aspekte, welche Objekte, welche Themen überdauern. Es wird nach wie vor ein Ringen um die Bewertung von Qualität bleiben. Und das macht Baukultur aus.

Baukultur bedeutet demnach auch Reflexion über Architektur. Diese kann Einfluss auf das Baugeschehen seiner Zeit gewinnen und einen Beitrag für architektonische Qualität leisten. Damit ist Baukultur bestimmt durch das Bewusstsein und den Willen der am Bauen aktiv Beteiligten. Noch vor den Architekten werden die privaten und öffentlichen Bauherren, die Kommunen und Länder sowie der Staat aktiv. Sie formulieren die Absicht zu bauen und haben entscheidenden Einfluss auf das Geschehen. Sie brauchen Mut und das Wissen um Kultur. Damit ist es auch eine politische Entscheidung, das Thema Baukultur auf die Agenda der Gesellschaft zu setzen. Darüber findet auch eine Auseinandersetzung mit denjenigen statt, die nicht mittendrin stehen im Prozess des Bauschaffens.

Es mag einfacher erscheinen, über Baukultur einer vergangenen Zeit zu reflektieren als mittendrin zu stecken – unter dem Druck, sie selbst zu erzeugen. Als Akteur will man einen Anteil an der Baukultur haben, wenn auch nur mit einem kleinen Beitrag oder hoffentlich überhaupt mit einem Anteil. Schon in meiner bisherigen Laufbahn als Architektin haben sich die Themen radikal geändert, manche hingegen tauchen als Dauerschleife in unterschiedlichem Gewand immer wieder auf: Wohnen in der Stadt, neue öffentliche Gebäude, Umbau von Bestandsbauten, Umstrukturierung ganzer Stadtteile. Diese komplexen Themen müssen immer wieder neu interpretiert und auf den jeweiligen Ort zugeschnitten werden. Dazu kommen neue Themen, neue Techniken, neue Materialien.

Die Aufgaben stellen wir Architekten uns in den seltensten Fällen selbst. Sie werden an uns herangetragen und wir bemühen uns auch darum. Die Konstellationen sind immer verschieden, die Orte sind immer wieder neu, die Schwerpunkte sind anders gesetzt; und letztlich stehen all die Anforderungen häufig noch im Widerspruch zueinander. Deswegen gibt es auch nicht das eine Rezept mit der präzisen Handlungsanweisung, sondern immer wieder ein neues Ringen um die architektonische Antwort, die all diese Bedingungen ins Gleichgewicht bringen will: für die jeweilige Aufgabe an einem speziellen Ort eine gebaute Synthese.

Parallel definiere ich in meiner Lehre an der Leibniz Universität Hannover ganz unterschiedliche Themen. Dabei geht es mir zunächst um die kreative Recherche von potentiellen Aufgaben. Teilweise sind sie als allgemeingültige Fragen der Gestaltung formuliert, folgen aber immer dem Anspruch, die zukünftigen Architekten zu sensibilisieren, sich in einem vorgegebenen Rahmen den Aufgaben und der Verantwortung kreativ zu stellen. Jedes Projekt ist eine Reihenuntersuchung, eine kreative Forschung, um einen Möglichkeitsraum auszuschöpfen.
Es ist inzwischen so viel Kluges, aber auch Belangloses zum Thema Baukultur gesagt worden. Wahrscheinlich ist eben beides zur Klärung der Bedeutung von Baukultur wichtig. Aber entscheidend ist der Anteil, den wir in den unterschiedlichen Bereichen leisten können. Ob das ein wertvoller Beitrag zur Baukultur ist, wird sich vielleicht, hoffentlich, später bestätigen.

Prof. Dipl.-Ing. Hilde Léon Architektin, Berlin
geboren 1953 in Düsseldorf, studierte Architektur an der TU Berlin. 1987 gründete sie zusammen mit Konrad Wohlhage das Büro léonwohlhage in Berlin. Von 1997 bis 1999 lehrte sie an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, seit 2000 ist sie Professorin für Architektur und Landschaftsplanung am Institut für Entwerfen und Gebäudelehre der Leibniz Universität Hannover. 2002 war Léon Kommissarin des Deutschen Pavillons der Architektur-Biennale in Venedig. Sie war Mitglied im Gestaltungsbeirat der Städte Berlin und Salzburg, im Hochschulrat zur Neugründung der HafenCity Universität Hamburg sowie im Berliner Baukollegium. Seit 2013 ist Léon Mitglied der Akademie der Künste in Berlin.

Dieser Text wurde 2018 im Essayband „Reden über Baukultur mit...“ veröffentlicht.

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