| Baukultur ist …

04 / Kees Christiaanse: Baukultur ist...

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Heute besteht Konsens darüber, dass die Stadt sich nicht entwerfen, sondern lediglich steuern lässt. Gleichzeitig findet die Stadtproduktion gemäß präzisen Regeln statt, bestehend aus natürlichen Prozessen und von Menschen formulierten Konventionen und Regelwerken. Darüber hinaus können in der Geschichte des Städtebaus viele Beispiele von großen Interventionen, ich nenne sie grands projets, gefunden werden, die zeigen, dass die bewusste Beeinflussung der bebauten Umwelt durch den Menschen ansehnliche Dimensionen erreichen kann.


Nähere Betrachtung dieser drei Einflussfaktoren auf die bebaute Umwelt – des natürlichen Siedlungsprozesses, der vom Menschen formulierten Regeln und des grand projet – bieten uns eine gewisse Einsicht in die Mechanismen städtischer Produktion. Der natürliche Siedlungsprozess verfolgt feste natürliche Prinzipien. Eins davon ist der fast vollständig zweidimensionale Charakter des städtebaulichen Entwurfs: Eine Parzelle oder ein Gebäude befindet sich in der Regel nur neben anderen Parzellen oder Gebäuden. Eine Parzelle oder ein Gebäude wird im Allgemeinen immer erschlossen über eine öffentliche Straße. Die meisten Elemente der bebauten Umwelt liegen neben und nicht übereinander. Ein anderes natürliches Prinzip bildet der im Wesen wirtschaftliche Charakter der Stadtproduktion. In einer liberalen Gesellschaft läuft das Bauen gemäß dem Mechanismus des freien Marktes ab: Angebot und Nachfrage, attraktive Lage, verfügbares Bauland, Grundstückspreis oder Erschließungsqualität.

Die vom Menschen formulierten Regeln kommen generell aus dem Bedürfnis hervor, die natürlichen Siedlungsprozesse zu kanalisieren und die Umwelt gegen übermäßige Entwicklungen zu schützen. Sie sind im Grunde negative, beschränkende Maßnahmen, erfunden, um positive, gleiche Entwicklungschancen zu ermöglichen.

Sie schaffen eine Situation von „Freiheit in Gebundenheit“, den wahren Niederschlag des demokratischen Prinzips im physischen Raum. Beispiele sind Bebauungspläne, das Recht auf Grundbesitz, die Verpflichtung für Gebäude, um mindestens fünf Meter auf der Baulinie zu bleiben, die Verpflichtung, eine Ligusterhecke von 1,20 Metern Höhe zwischen zwei Nachbargrundstücken einzuhalten, oder die maximale Lärmbelastung zwischen zwei Wohnungen.

Das scheinbare Chaos der besiedelten Landschaft, so wie es von vielen Leuten wahrgenommen wird, ist somit de facto eine sehr geordnete Kondition, eine Hyperordnung, das Ergebnis der Einwirkung der natürlichen Siedlungsprozesse und vom Menschen gemachten Regeln.
Der Bau des Hochgeschwindigkeitsnetzwerks in Europa zeigt, dass grands projets heute noch immer möglich sind. Auf der einen Seite sind sie Ergebnis einer bewussten und gezielten Intention einer beschränkten Gruppe – mit anderen Worten: Entwürfe. Auf der anderen Seite aber werden die Entwürfe in ihrer endgültigen Form durch eine Menge Faktoren modifiziert – politische Interessen, Rekurse, geologische Konditionen, finanzielle Defizite, ökologische Motive. Das endgültige Ergebnis dieses Balanceaktes hat daher oft keinen eindeutigen Autor (der Autor ist die Kollektivität oder der Prozess), hängt bis zum letzten Moment von Unvorhersagbarkeiten ab und entbehrt im Allgemeinen Schärfe und Kohärenz.  

Im Hinblick auf diese Beobachtungen ist es frappant, dass es noch immer Leute gibt, die denken, man könne ein funktionierendes Stück Stadt mit Hilfe eines festen beaux arts-Städtebauentwurfs schaffen. Die oben beschriebenen Mechanismen suggerieren eine viel selbstverständlichere Entwurfs- und Implementierungsmethode: Wenn wir ein Stadtquartier schaffen wollen, formulieren wir zuerst in einer rohen Skizze ein grand projet, eine globale Vision. Daraufhin sorgen wird dafür, dass diese Vision sich allmählich gemäß natürlichen Siedlungsprozessen konkretisiert, wobei Entwicklungsinitiativen unsere hausgemachten Regeln einhalten müssen. Meiner Erfahrung nach gehört dies zu den wenigen Arbeitsmethoden, die in großmaßstäblichen urbanen Konditionen funktionieren und die zu einigermaßen vernünftigen und präzisen Ergebnissen führen.

In einem Städtebauentwurf, der gemäß dieser Methode erstellt wird, ist aber etwas Spezielles mit den Regeln, die angewendet werden, los. Ich verteile sie grob in drei Kategorien: Eine erste Kategorie besteht aus trockenen, administrativen Regeln, die bestimmte Rechte und Pflichten von einer juristischen Perspektive aus regeln, z. B. das Recht auf Tageslicht. Eine zweite Kategorie besteht aus Regeln, die aus einer gewissen (bau-) kulturellen Tradition hervorkommen, wie z. B. die oben genannte Hecke. Eine dritte Kategorie umfasst strategische Steuerungsinstrumente, die auf die Kontrolle dynamischer Variablen fokussieren, wie z. B. die gegenseitige Ausgleichung der Beziehung zwischen Parzellenform und -größe, Gebäudetypologie, das Netzwerk öffentlicher Räume und die Verkehrskapazität.

Irgendwann in der Geschichte des Städtebaus, schon relativ früh, differenzierten sich die Regeln gemäß diesen Kategorien und überquerten eine wichtige ideologische Grenze: Einige Regeln entwickelten sich von rein juristischen Instrumenten in kreative Werkzeuge. Man fing an zu untersuchen, wie Regeln ausgebeutet werden könnten, um den Entwurf zu optimieren. Somit entstanden kohärente Identitäten von Stadtquartieren, und somit wurde die Baukultur geboren. Die Mutter war also nicht die Architektur, sondern der Städtebau. PS: Beachten Sie bitte bei der Anwendung von Regeln im Städtebau, dass Regeln selber nicht entwerfen können. Sie sind, wenn richtig formuliert, exzellente Werkzeuge für die Entwicklung qualitativer räumlicher Strukturen.

Prof. Kees Christiaanse Stadtplaner, Rotterdam / Zürich
geboren 1953 in Amsterdam, studierte Architektur und Stadtplanung an der TU Delft. 1980 bis 1989 war er beim Office for Metropolitan Architecture (OMA) in Rotterdam tätig, wo er 1983 Partner wurde. 1989 gründete er Kees Christiaanse Architects & Planners in Rotterdam; 1990 zusammen mit Peter Berner, Oliver Hall und Markus Neppl ASTOC Architects & Planners in Köln. 1996 bis 2003 unterrichtete er Architektur und Stadtplanung an der TU Berlin, seit 2003 ist er Professor an der ETH in Zürich. Christiaanse kuratierte 2009 die Internationale Architektur Biennale Rotterdam (IABR). Er ist als Berater für mehrere Flughäfen tätig und gilt als Experte im Bereich Hochschulcampus und der Wiederbelebung von vormaligen Industrie-, Bahn- und Hafengebieten.

Dieser Text wurde 2018 im Essayband „Reden über Baukultur mit...“ veröffentlicht.

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