Ingenieurbaukunst in Ulm: Kienlesbergbrücke

Baukultur überbrückt Distanzen

© Andreas Meichsner
© Andreas Meichsner
© Andreas Meichsner

Ein Gleisfeld in urbanem Umfeld, das sich in drei Richtungen verzweigt; in seiner Mitte die Baustelle für die Einfahrt des Kienlesbergtunnels der ICE-Neubaustrecke Stuttgart-Ulm. Und doch entstand genau hier eine neue Wegeverbindung und sogar ein öffentlicher Ort.

Die Stadt Ulm war bereits mit dem Rückbau einer Hauptverkehrsader durch die Innenstadt baukulturell aktiv. Nun erfolgte ein weiterer Schritt mit dem Bau einer neuen Straßenbahnlinie, die den Wissenschafts- und Universitätsstandort am Eselsberg an das Zentrum anbindet. Dafür musste das Gleisfeld vor dem Hauptbahnhof über 270 Meter hinweg diagonal zum Kienlesberg hin überquert werden. Die benachbarte denkmalgeschützte Neutorbrücke von 1907 – mit ihrer genieteten Stahlfachwerkkonstruktion ein Wahrzeichen Ulms – hätte diesen Funktionszuwachs nicht zugelassen. Aufzunehmen waren die zwei Straßenbahngleise auf einer Fahrbahn, die auch für Ersatzbusse befahrbar wäre, sowie ein Fuß- und Radweg auf der Südseite. Trotz der gebotenen Rücksicht auf die Neutorbrücke war die neue Kienlesbergbrücke aber wegen ihrer exponierten Lage (sichtbar vom Kienlesberg, von den benachbarten Straßenbrücken und aus den Zügen) als Gestaltungsaufgabe wahrzunehmen. Hinzukamen Zwänge aus dem beengten Bauplatz: Weil weder die Tunnelbaustelle noch der Bahnbetrieb längere Zeit unterbrochen werden konnten, wurde im Vorschubverfahren gebaut. Dabei gelang eine gute Abstimmung mit der Deutschen Bahn, die über Betriebsunterbrechungen bereits zwei Jahre zuvor informiert werden muss. Zudem bedingte der Verlauf der Straßenbahn eine leichte Kurve im südlichen Brückenabschnitt und es war ein Höhenunterschied von etwa 15 Metern zu überwinden. Zugleich galt es, die Lichtraumprofile mit den Oberleitungen der Gleise darunter zu beachten, sodass sich von Süden blickend ein Steigungswechsel von 7,35 % (weil das mehr ist, als die für Barrierefreiheit nötigen 6 %, wurde die Straßenbahn als „Aufzug“ definiert) auf 6,0 % und dann wieder ein leichter Abfall um 1,2 % ergab. Bisweilen lagen zwischen Straßenbahngleis und Lichtraumprofil nur 1,5 Meter, was für die Brücke eine geringe Konstruktionshöhe bedeutete.

Den von den Stadtwerken Ulm als Bauherrin ausgelobten Realisierungswettbewerb gewannen 2012 das Ingenieurbüro Krebs + Kiefer aus Karlsruhe gemeinsam mit Knight Architects aus dem britischen High Wycombe. Ihre interdisziplinäre Lösung kapituliert nicht vor den technischen und logistischen Zwängen, sondern entwickelt aus ihnen eine komplexe und in jeder Dimension asymmetrische Geometrie, die zum Gestaltungsmotiv wird. Die ab 2016 als Stahlkonstruktion realisierte Lösung besteht aus einem Trog für die Straßenbahntrasse, dessen Flanken als Wellen aufgelöst sind. Weil die acht Pfeiler nur unregelmäßig zwischen den Gleisen platziert werden konnten, ergeben sich Spannweiten zwischen 14,8 und 74,5 Metern und es entsteht ein spannungsvoller Versatz der beiden Wellenlinien im Grundriss. Auf der Südseite, wo der vier Meter breite Rad- und Fußweg die Asymmetrie noch verstärkt, mussten die Wellen höher werden. Die zwei mittleren wurden als Fachwerk aufgelöst – durchaus eine Reminiszenz an den historischen Nachbarn, der in der Höhe aber nicht übertrumpft wird. Die Öffnungen des Fachwerks gestalteten die Planer als Sitzmöglichkeiten, um der langen Wegstrecke einen Mehrwert als Aussichtspunkt zu verleihen. Außerdem wurde der Fuß- und Radweg im Grundriss analog zur Wellenlinie des Tragwerks wellenförmig auf sechs Meter zu zwei „Kanzeln“ aufgeweitet. Durch das Fachwerk hindurch sehen auch die Fahrgäste der Straßenbahn das Stadtpanorama.

Die 2018 mit einer Brückentaufe eingeweihte Kienlesbergbrücke überzeugt, weil sie als Ingenieurbauwerk den Kraftfluss veranschaulicht; als Architektur durch ihren individuellen Ausdruck zum Wahrzeichen taugt; und als städtebauliche Maßnahme Blickbeziehungen berücksichtigt und die dritte Dimension aktiviert: Über einer bisher völlig unzugänglichen Verkehrsfläche hinweg ist ein Wege- und Aufenthaltsort entstanden.

Das Projekt finden Sie im Baukulturbericht 2020/21 sowie in der Publikation "gut gemacht!"

Planungszeitraum 2012-2018
Auftraggeber Stadtwerke Ulm, SWU Verkehr GmbH
Architekt / Planer

Knight Architects, High Wycombe (GB); KREBS+KIEFER Ingenieure, Karlsruhe

Größe / Fläche 270m Länge
Baukosten brutto ca. 20 Mio. Euro
Nutzungen Infrastruktur
Nach oben