Das Wittenberger Schloss

Baukultur schreibt Geschichte

© Andreas Meichsner

Die Lutherstadt Wittenberg nutzte 2017 das 500-jährige Reformationsjubiläum, um die Altstadt weiter zu sanieren und das UNESCO-Welterbe neu zu erschließen.

Das über Jahrzehnte vernachlässigte Schloss erhielt dadurch neue Bedeutung. Am westlichen Stadteingang gelegen, bot es sich als Standort für ein Besucherzentrum an. Zudem vereinbarten die Evangelische Kirche Deutschland (EKD), das Land Sachsen-Anhalt, die Lutherstadt Wittenberg und die Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, die kirchlichen und musealen Einrichtungen jeweils an einem Ort zu konzentrieren: Das Evangelische Predigerseminar, seit 200 Jahren im Augusteum beim Lutherhaus untergebracht, sollte ins Schloss ziehen und direkten Zugang zur Schlosskirche erhalten, die den Vikarinnen und Vikaren als symbolträchtige Ausbildungsstätte dient. Des Weiteren sollte eine reformationsgeschichtliche Forschungsbibliothek im Schloss etabliert werden. Die frei werdenden Räume im Augusteum sollten fortan dem erweiterten Museums- und Ausstellungsbetrieb der Stiftung zur Verfügung stehen.

Von dem unter Friedrich dem Weisen ab 1489 gebauten kurfürstlichen Schloss mit seinen gravitätischen Wohntürmen ist nicht viel mehr erhalten als die dicken Außenmauern und die charakteristischen Wendelsteine im Hof: Diese beiden Treppentürme erschlossen einst die oberen Residenzgeschosse. 1817 hatten die Preußen das in den Befreiungskriegen zerstörte Schloss zur Festung ausgebaut. In den entkernten Palast zogen sie massive Schotten ein, die sie im obersten Stockwerk mit Tonnengewölben versahen, die zum Schutz gegen Brandbomben dick mit Erde abgedeckt wurden.

„Bestand ist eine Schule, neu zu denken“, sagt Architekt José Gutierrez Marquez. Routinen helfen nicht weiter. Nicht die Form folgt der Funktion, sondern die Funktion der vorgefundenen Form. Die Gewölberäume der Festungsarchitektur schienen dem Team von Bruno Fioretti Marquez perfekt für die Forschungsbibliothek geeignet. Tafelbilder des 15. Jahrhunderts inspirierten sie zu klösterlich anmutenden, halb hohen Eichenholzregalen mit Lesepulten, die den Raumfluss nicht behindern. Die Kompaktmagazine und der Tresorraum für die kostbaren Frühdrucke fanden im Zwischengeschoss Platz. Für die Unterbringung des Predigerseminars knüpfte das Team an die Tradition des Augusteums an. Eine Art Klosterhof mit Wandelgang schwebte ihnen vor. Dafür bot sich die Fläche über den Gewölben an, die ja schon einmal mit Erde bedeckt war. Da das Tragwerk des Kasernenbaus für hohe Belastungen ausgelegt ist, konnte dort ein Aufbau aus Leichtbeton gebaut werden. Links und rechts eines breiten Mittelgangs wechseln Seminarräume mit begrünten Lichthöfen ab. Die Mauersockel unter den Fenstern dienen als Sitzbänke. Die Höfe bieten Ruhe und Ausblick unter freiem Himmel.

Eine Herausforderung war die barrierefreie Erschließung der verschieden hohen Nutzungsebenen. Seit dem Umbau zur Festung passten die Anschlüsse der alten Schlosstreppen nicht mehr. Die Festungsbauer hatten neue Durchgänge und kleine Zwischentreppen geschaffen, die heutigen Sicherheitsanforderungen nicht genügten. Für die neuen Treppenhäuser und Lifte am südlichen und nördlichen Ende der Anlage waren deshalb Durchbrüche durch alle Geschosse nötig. „Wir haben zunächst einmal Brücken von Tür zu Tür konstruiert, und dann haben wir Treppen von Brücke zu Brücke gebaut, jeweils in einem anderen Winkel, in einer anderen Bewegung über verschiedene Zwischenpodeste.“ Entstanden ist ein singulärer, aber vollkommen normgerechter Treppenraum aus Ortbeton, der Abstand von den freigelegten Wänden der Bastions- und Schlossarchitektur hält.

Gerne vergleichen Bruno Fioretti Marquez ihr Werk mit einer alten Pergamenthandschrift, auf der Texte immer wieder ausgekratzt und neu überschrieben wurden. Wie bei einem solchen Palimpsest sind auch beim Wittenberger Schloss unter den fein gekalkten Oberflächen die alten Schichten sichtbar. Gleichzeitig hat das Schloss durch die sorgfältige handwerkliche Behandlung aller Details eine neue, würdevolle historische Schicht hinzugewonnen.

Aus dem Baukulturbericht 2022/23.

Planungszeitraum 2011-2017
Auftraggeber Lutherstadt Wittenberg
Architekt / Planer Städtebau und Architektur: Bruno Fioretti Marquez, Berlin; Tragwerksplanung: ifb – Frohloff Staffa Kühl Ecker Beratende Ingenieure, Berlin; Technische Gebäudeausstattung: INNIUS DÖ, Dresden; Brandschutz: Sachverständigenbüro Arnhold, Weimar
Größe / Fläche 10.538 qm
Nutzungen Kultur
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