Darmstadt
Baukultur gestaltet Straßenräume
Zu seinem 350-jährigen Bestehen 2018 ging das Darmstädter Chemie- und Pharmaunternehmen Merck mit neuer Corporate Identity und neuer Firmenpolitik an die Öffentlichkeit. So wollte man sich der Stadt mehr öffnen und im Rahmen von Kooperationsprojekten externen Forschern und Entwicklern Arbeitsplätze zur Verfügung stellen. Dafür entstand am Haupteingang – statt einer zuvor angedachten neuen Hauptverwaltung – ein Innovation Center, das von der Straße etwas zurückspringt und einen Vorplatz ermöglicht. Das Architekturbüro Henn, das für Merck auch einen Masterplan für das gesamte Firmenareal erarbeitet hatte, entwarf es als offene Arbeitslandschaft auf sechs geschwungenen und miteinander verbundenen Ebenen aus Sichtbeton. Dem neuen Image wenig entsprochen hätte allerdings die Lage an der vierspurigen Frankfurter Straße, die den östlich gelegenen offenen Teil des Firmengeländes mit Mitarbeiterparkplätzen, Bürogebäuden und einem gegenüber des Innovation Centers noch zu errichtenden Besucherzentrum abtrennt. Der wenig gestaltete Straßenraum dazwischen sollte also ebenfalls zum Imageträger werden. In Zusammenarbeit mit der Stadt Darmstadt wurde vom Büro Henn als Generalplaner das Konzept für einen öffentlichen Platz entwickelt, der das Firmengelände optisch zusammenfasst, zum Aufenthalt einlädt und den Durchgangsverkehr bremst. Das Darmstädter Verkehrsplanungsbüro R+T sah dafür eine Entschleunigung des Verkehrs und eine Verengung auf zwei Spuren vor. Durch Berechnungen konnten die Planer nachweisen, dass die auf Bürgerversammlungen geäußerte Angst vor Dauerstaus unbegründet sei und die gewünschten Unter- oder Überführungen nicht notwendig sein würden.
Für den Außenraum griffen die Planer von Henn ein Gestaltungsthema aus dem Innovation Center auf: die geschwungenen Sichtbetonoberflächen. Auf dem Platz wurden beiderseits der Straße die zentralen Bereiche in weißem Ortbeton ausgeführt, aus dem jeweils drei „Vulkane“ aufsteigen, deren Wölbungen handwerklich hergestellt wurden.
Eingebettet sind diese Zonen in das Konzept des Berliner Büros Topotek 1, das 2014 einen freiraumplanerischen Wettbewerb gewann. Rund um die zwei Betonfelder breiten sich Rasenflächen, Platanenalleen sowie Haine aus Zedern und Säuleneichen innerhalb einer Natursteinsteinfläche aus, die sich bis hinter die gläsernen Begrenzungen des Firmengeländes zieht.
Auf dem Platz gibt es keine definierten Fuß- oder Radwege und selbst die Straße führt, zumindest dem Empfinden nach, über den Platz. Zwar existieren zwei geteerte Fahrbahnen, die jedoch zum sicheren Überqueren durch einen gepflasterten Mittelstreifen getrennt sind. Weil Tempo 30 herrscht, können Passanten im „freien Floating“ auf 170 Metern die Straße an jeder Stelle überqueren. Zugunsten besserer Sichtbeziehungen wurde die Straßenbahnhaltestelle an den Nor- drand des Platzes versetzt. Die Schienen können auf drei breiten Furten gekreuzt werden. Wenn Bahnen einfahren, warnen Signale. Ansonsten gibt es keine Ampeln.
Der Emanuel-Merck-Platz liegt bis auf den Bereich der Straße auf firmeneigenen Grundstücken und wurde komplett von Merck bezahlt. Er präsentiert sich aber als öffentlicher Platz – zumindest vordergründig, denn sicherlich dürfte er eher von den Mitarbeitern als von der Stadtgesellschaft insgesamt genutzt werden, und im Zweifel hat Merck das Hausrecht. Auch ist er ein geschicktes Mittel, die Corporate Identity der Firma im Stadtbild zu verankern. Ein Gewinn ist er dennoch: als neuer Ort, wo vorher nur Transitraum war, und als mutiges Verkehrsexperiment, das auf gegenseitiger Rücksicht beruht. Dass das Experiment gelungen ist, erkannten Anfang 2019, ein gutes Jahr nach Fertigstellung, gegenüber der Lokalzeitung Darmstädter Echo auch Vertreter einer einst kritischen Bürgerinitiative an. Die Polizei wusste von keinem einzigen Unfall mit Beteiligung von Fußgängern oder Radfahrern zu berichten und der Stadt lagen „keine Meldungen über besondere Verkehrssituationen“ vor. Der Verkehr laufe flüssiger als zuvor.
Rubrik | Öffentliches Bauen Stadtplanung |
Planung | Henn, München, Berlin; Topotek 1, Berlin; R+T Verkehrsplanung, Darmstadt |
Planungszeitraum | 2015-2017 |
Größe / Fläche | 3.500 m2 |
Baukosten | 10 Mio. Euro |