Restwasserkraftwerk und Sommerbar Kempten
Baukultur kombiniert Energiegewinnung mit Erholungswerten
Wer in Kempten unter dem auskragenden Dach der Sommerbarterrasse im Schatten sitzt, fühlt sich wie auf einer Insel. Die ein und ausschwingende Terrasse scheint über dem ruhigen Oberwasser der aufgestauten Iller zu schweben. Zur Straße hin führt eine Fischtreppe in weitem Bogen um die Plattform mit ihren beiden Glaspavillons. Das Rauschen der Kaskaden schirmt die Insel für Mittagspausen und Feierabende gegen den Verkehrslärm der Bundesstraße ab, die hier auf der Sankt-Mang-Brücke den Fluss überquert.
Von der oberen, jedem Hochwasser enthobenen Terrasse führen Treppen und breite Sitzstufen hinab zum zweiten Sonnendeck. Dort ist das Restwasser ganz nah, das unter der Plattform ins Flussbett zurückfließt. So umrauscht geht das Gefühl für Zeit verloren, während der Blick hinüber zur Altstadt und zum historischen Wasserkraftwerk am Westufer wandert. Es ging 1901 in Betrieb und erzeugt heute mit vier Turbinen rund 6,5 Millionen Kilowattstunden Strom. Diesem Kraftwerk der Allgäuer Überlandwerke (AÜW) verdankt die Sommerbar ihre Existenz. Konzessionen für Wasserkraftwerke müssen periodisch neu erworben und ihr Betrieb den aktuellen ökologischen Anforderungen angepasst werden. Das Wasserhaushaltsgesetz fordert heute, dass der Fluss weiter eine Mindestmenge an Wasser führt und durch die Anlage nicht vollständig unterbrochen wird. Ohne Fischaufstiegshilfe hätten die AÜW keine neue Konzession für das leistungsstarke Kraftwerk erhalten. Dort, an der Illerstraße, war jedoch kein Platz für eine über 100 Meter lange Fischtreppe. So konzentrierte sich die Planung auf einen Parkplatz am östlichen Ufer.
Aus wirtschaftlichen Gründen bot es sich an, die für die Durchgängigkeit des Flusses notwendige Baumaßnahme mit dem Bau eines Dotierkraftwerks zu verbinden, das das Restwasser im Fluss nutzt, um weitere 350 Haushalte mit Strom zu versorgen. Ein Vorentwurf des auf Wasserbau spezialisierten örtlichen Ingenieurbüros Dr. Koch sah zunächst ein reines Technikgebäude vor. Dass daraus der meistbesuchte Platz für Sommerabende an der Iller wurde, verdankt sich dem Engagement der Freunde der Altstadt Kemptens e. V. und dem Gespür des Architekten Rainer Lindermayr vom Büro f64 Architekten und Stadtplaner PartGmbB.
Mit seiner Initiative „Iller erleben“ setzt sich der Förderverein schon länger dafür ein, die Stadt Kempten und den über Jahrhunderte von Gewerbe und Industrie genutzten Fluss einander wieder näherzubringen. Der Masterplan dafür klammerte indes den Parkplatz an der Sankt-Mang-Brücke aus. Niemand hatte sich vorstellen können, dass dort zwischen Straße und Hochwasserschutzmauer ein öffentlicher Naherholungsraum entstehen könnte. Rainer Lindermayr überzeugte die AÜW mit seiner Idee einer gebauten Insel. Sein Entwurf legte die Modellierung des Geländes, die geschwungenen Terrassen, die ovaloiden Pavillons, die Dachlandschaft und den Verlauf der Fischtreppe fest. Auf dieser Basis planten die Wasserbauingenieurinnen und -ingenieure vom Büro Dr. Koch den für die Anlage notwendigen Tiefbau mit Einläufen, Becken, Gattern, Hochwassertor und Turbinenraum samt der Fischaufstiegshilfe, deren 25 Becken in 15-Zentimeter Schritten 3,60 Meter Höhe überwinden. Der nördliche Pavillon dient als Treppenhaus und Laterne für den tiefer liegenden Turbinenraum. Der südliche Pavillon beherbergt die Bar und Sanitärräume. In den Abendstunden tauchen RGB Leuchten die beiden opaken Glaskörper in farbiges Licht. Bei Hochwasser wird das Dotierkraftwerk abgeriegelt. Dann strömt die Iller tosend über das Wehr. Von der hochwassersicheren Hauptplattform ist die Iller in diesen Zeiten ohrenbetäubend nah zu erleben, selbst wenn – im Extremfall – die untere Terrasse überflutet sein sollte. Im Sommer wird Abkühlung mitgeliefert. Welche Kraft im Wasser steckt, und wie sie in Kempten seit Langem genutzt wird, zeigt eine kleine Ausstellung entlang der Zugangswege und am Geländer der Terrasse.
Rubrik | Freiraum Infrastruktur Stadtplanung |
Region | Bayern |
Bauherr | Allgäuer Überlandwerk GmbH, Kempten |
Planung | Planung: f64 Architekten und Stadtplaner PartGmbB, Kempten; Ingenieurbüro Dr.Ing. Koch Bauplanung GmbH, Kempten; Ingenieurbüro Lämmle, Wiggensbach |
Planungszeitraum | 2013–2016 |
Größe / Fläche | 870 m2 BGF (Wasserkraftwerk mit Fischtreppe); 250 m2 BGF (Krafthauszugang und Sommerbar mit öffentlicher WC-Anlage); 2.900 m2 (Außenanlagen) |
Baukosten | 5,5 Mio. Euro |